Warum wir Gefühle nicht pathologisieren sollten – und was Psychotherapie wirklich leisten kann
Psychische Gesundheit ist heute präsenter denn je. In sozialen Medien, in Schulen, in Podcasts und Talkshows – überall wird über Trauma, Depression, Angststörungen oder ADHS gesprochen. Grundsätzlich ist das eine gute Entwicklung: Jahrzehntelang wurden psychische Probleme tabuisiert. Doch mittlerweile zeigt sich auch eine Kehrseite dieser Offenheit.
Immer häufiger entstehen Fragen wie:
Bin ich traumatisiert?
Ist meine Traurigkeit schon eine Depression?
Sind meine Konzentrationsprobleme vielleicht ADHS?
Ein Artikel aus der ZEIT greift genau dieses Spannungsfeld auf – und liefert wichtige Erkenntnisse, die auch für die psychotherapeutische Praxis relevant sind.
Wenn Aufklärung unbeabsichtigt schaden kann
Internationale Studien zeigen inzwischen etwas Überraschendes:
Nicht jede Aufklärung über psychische Erkrankungen hilft – manche kann sogar schaden.In großen Schulstudien konnten keine eindeutigen positiven Effekte von Mental-Health-Programmen nachgewiesen werden. Teilweise berichteten Kinder und Jugendliche nach Workshops mehr Sorgen und stärkere Belastungen als zuvor.
Ein möglicher Grund:
Je mehr Menschen über Symptome und Störungsbilder erfahren, desto eher beginnen sie, normale Gefühle als krankhafte Symptome zu interpretieren.Traurigkeit wird zur Depression.
Lampenfieber wird zur Angststörung.
Erschöpfung wird zum Burnout.Hier entsteht eine gefährliche Schieflage.
Nicht jedes Leiden ist gleich eine psychische Störung
Aus psychotherapeutischer Sicht ist eine klare Unterscheidung zentral: Leiden ist nicht gleich Krankheit.
Gefühle wie:
Trauer
Angst
Unsicherheit
Wut
Scham
Erschöpfung
Einsamkeit
sind grundlegende menschliche Erfahrungen.
Sie gehören zum Leben – und oft auch zu wichtigen Entwicklungsprozessen.Wenn wir jedes unangenehme Gefühl sofort als Symptom interpretieren, verlieren wir etwas Entscheidendes:
die Fähigkeit, mit unseren eigenen Emotionen zu leben, statt sie reflexartig zu pathologisieren.Der Psychiater Jerome Wakefield spricht in diesem Zusammenhang vom „Verlust der Traurigkeit“:
Die Gesellschaft verlernt, zwischen natürlicher Lebenskrise und psychischer Erkrankung zu unterscheiden.
Die Ausweitung psychischer Begriffe: Wenn alles „Trauma“ wird
Begriffe wie „Trauma“, „Narzissmus“ oder „toxisch“ werden heute sehr inflationär verwendet.
Fachlich jedoch bezeichnet ein psychisches Trauma ursprünglich extreme Erfahrungen:
Krieg, Folter, schwere Gewalt, dauerhafte Bedrohung des Lebens oder körperliche Unversehrtheit.Wenn alltägliche Kränkungen oder Beziehungskonflikte schnell als „traumatisch“ bezeichnet werden, hat das zwei problematische Folgen:
Echte Traumatisierungen werden relativiert
Betroffene verlieren den Zugang zu ihren Ressourcen, weil sie sich selbst als dauerhaft „geschädigt“ erleben
Leid verdient Anerkennung – aber nicht jede Krise ist ein Trauma.
Warum das nicht gegen Psychotherapie spricht – sondern für sie
Wichtig ist:
Diese Kritik richtet sich nicht gegen Psychotherapie, sondern gegen eine vorschnelle Pathologisierung menschlicher Erfahrung.Psychotherapie bedeutet nicht: „Alles ist eine Krankheit.“
Sondern: Wir schauen gemeinsam differenziert auf das, was belastet.
Psychotherapie ist wichtig, weil sie:
einen geschützten Raum schafft für echte innere Prozesse
hilft, zwischen Krise, Belastungsreaktion und Störung zu unterscheiden
emotionale Differenzierung fördert statt vorschnelle Etikettierung
Wege aus Leidensspiralen eröffnet, wenn diese selbst nicht mehr bewältigbar sind
Ressourcen aktiviert, statt Defizite zu fixieren
Psychotherapie bedeutet nicht, Gefühle „wegzumachen“, sondern lernen zu können, sie zu verstehen, zu regulieren und in das eigene Leben zu integrieren.
Ein Plädoyer für Differenzierung statt Dramatisierung
Wir brauchen heute keinen Rückzug aus dem Sprechen über psychische Gesundheit.
Wir brauchen vielmehr: mehr Differenzierung.Nicht alles ist Trauma.
Nicht jede Krise ist eine Störung.
Nicht jedes Leiden braucht eine Diagnose.Aber: Manches eben schon.
Und genau hier liegt die Kunst psychotherapeutischen Arbeitens:
zwischen normalem Leiden und behandlungsbedürftiger Störung unterscheiden zu können – ohne das Leiden zu bagatellisieren.Psychotherapie ist kein Ort der Pathologisierung, sondern ein Ort der Klärung.
Nicht, um jedes Gefühl zu therapieren, sondern um Menschen zu helfen, ihre Gefühle wieder als Teil ihrer eigenen Lebendigkeit zu verstehen – und nicht als Defekt.Denn:
Psychische Gesundheit bedeutet nicht, nichts Negatives zu fühlen.
Sondern mit dem Leben in seiner ganzen emotionalen Realität umgehen zu können.
Der Artikel, auf dessen Erkenntnisse ich mich in diesem Beitrag beziehe, stammt aus:
Die Zeit N°45 | Dossier | Haben denn alle ein Trauma? | Autor: Jakob Simmank |
